Skulpturale Bilder zwischen Fläche, Körper und Raum
Rainer Beßling
Richtet sich die Künstlerin im Museum häuslich ein? Oder besetzt sie das Haus mit Definition und Deutung? Zwei Arbeiten im Eingangsbereich legen die Fragen nahe. Am Boden liegt ein „Bärenfell”, nicht unbedingt im Weg, aber doch merklich am Weg. Die Assoziation einer Stolperfalle stellt sich ein. Stolpern lässt auch der Nachhall vergangen geglaubter Zeiten tierischer Trophäen in guten Stuben. Weit oben am „Obergaden” des Foyers haften große Zeichen, einem Schriftzug ähnlich, aber fragmentarisch gestreut. Chiffren, die sich eindeutiger Lesart verweigern. Das Fell des Bären ist aus Zapfen von Kiefern und Fichten nur lose gesteckt, instabile Einheit einer Hülle ohne Körper. Motiv und Material verbindet die Herkunft aus dem Wald. Die Schrift in der Höhe schließt an die architektonische Situation an und bringt zugleich entfernte Epochensignaturen zusammen. Sie nimmt Segmente eines Maßwerks vom Rand der Schriftreihe auf. Korrespondiert das historische Bauornament mit der durchfensterten Wand, lassen die plastischen Zeichen an aktuelle Graffiti denken, hart geschnitten, rau, ausdrucksmächtig. Eine schroffe Begegnung zwischen Gotik und Gegenwart, Dekor und Markierung als unterschiedliche Zeichenfunktionen.
Der Zugang zu Elisabeth Wagners Bremer Ausstellung kommt einer Ouvertüre gleich - Auftakt für eine Präsentation, die sich trotz ihrer materiellen, medialen und motivischen Vielfalt als ein Werk verstehen lässt. Zentrale Motive klingen in der Eröffnung an, Grundthemen binden sie zusammen. Bleibt man im Bild, folgen sechs Akte auf die Ouvertüre. Anders als in der Musik nicht linear gereiht, sondern in symmetrischer räumlicher Ordnung. Die Blicke durch die Räume lassen Kontraste erkennen und schaffen Korrespondenzen. Immer wieder stellen sich im Laufe des Parcours Rückbezüge und Vorgriffe ein. Was hier im Text nach strenger Struktur klingen könnte, vermittelt sich vor Ort assoziativ. So intensiv vorbereitet und präzise die Inszenierung auch ist, so offen bleibt sie im Ergebnis. Die Werke nehmen Raum, aber lassen auch Platz. So sehr die Ausstellung ästhetische Stellungnahmen versammelt, so deutlich vermittelt sich ein Grundgestus der Recherche. Gemäß der klassischen bildhauerischen Dreiecksbeziehung Körper, Raum und Betrachtende sind hier alle Seiten in gleicher Weise in einer fundamentalen Erkundung des Skulpturalen beteiligt und gefordert.
Seitlich vom Foyer zweigen Räume ab, deren Exponate eine thematische Klammer bilden. Im linken lichten Kabinett liegen Blütenzeichnungen aus, im rechten dunkleren sind Porträtbüsten platziert. Grafisches und Malerisches korrespondieren auf je eigene Weise mit dem Skulpturalen und Räumlichen.
Die Bilder einer Narzisse bilden auf einem großflächigen niedrigen Podest eine umlaufende Reihe und legen einen Rundgang um den Sockel nahe. Die figürliche grafische Darstellung wirkt zart, transparent, intim. Zugleich besitzt die Blume Plastizität. Die Pflanzenkörper in der Fläche entfalten sich in der Folge der zeichnerischen Ansichten zu einer objekthaften Behauptung und Simulation des Skulpturalen. Sie gewinnen wie Gemäldeserien Monets eine über ihre medialen Grenzen hinausgehende Präsenz als Raumgeschehen.
Auch die Büsten im gegenüberliegenden Raum sind Protagonisten eines Wechselspiels der Gattungen. Wie aus einem undurchsichtigen Grund tauchen prominente Porträts aus der Malereigeschichte in verschiedenen Größen und Materialien auf, ohne erkennbare Ordnung oder Auswahlkriterien. Goyas auf respektfreie Weise realistisches Porträt der Maria Luisa ist gleich zweimal vertreten. Auch eine wenig vorteilhafte Darstellung Philipps IV. ist dabei. Elisabeth Wagner fragt nach der Person vor der Porträtwerdung und nach deren Persönlichkeit im Porträt. Welche Signale haben die Maler aus der Modellsitzung aufgegriffen? Eröffnet die Übertragung in die plastische Sprache eine andere Art der Verkörperung? Die Künstlerin schaut auf die Konstruktion des Bildnisses durch unseren Blick und durch das künstlerische Medium. Von der Malerei in die Skulptur und über Fotografien der Büsten wieder zurück in die Fläche. Schaffen es die Porträtierten über die Repräsentation zur Präsenz und ins Präsens. Holt sie unser Echo auf ihre Augen und ihren Ausdruck aus der Tiefe der Zeit?
Giorgiones „Die Alte” changiert auch in der körperlich berührenden plastischen Ausführung zwischen Porträt und Allegorie. Individualität und Universalität des von einer abgründigen Fassungslosigkeit über die (eigene) Vergänglichkeit geprägten Gesichts spiegeln Empathie für das Menschliche und das Bewusstsein einer relevanten künstlerischen Erfassung gleichermaßen wider. Die Maria nach Fouquet umgibt durch Risse im plastischen Material noch ein Stück mehr Verletzlichkeit. Der Faszination, die von den Gemälden ausgeht, spürt Wagner in ihren plastischen Arbeiten schaffend nach. Die Spuren im Gesicht der Alten markieren bereits in der Malerei visuell greifbare Einprägungen des Alters. Konnte der Maler bereits im Antlitz der Porträtierten die mit Würde gepaarte Wahrhaftigkeit des Erlebens und Erkennens der existentiellen Verfasstheit erschließen? Legt der Künstler das universell Gültige in die Züge eines unverwechselbaren Individuums? Oder lesen wir der Einzelpersönlichkeit die Daseinserkenntnis ab?
Das Weiterleben historischer Malerei beschert Schlüsselbilder, die nicht nur unseren Blick auf Kunst, sondern auf die Welt als ganzes prägen. Die Bildhauerin siedelt ihre Büsten zwischen körperlicher Präsenz und Repräsentation an. Ihre plastische Arbeit ist Körper, Verkörperung und Reflexion zugleich. Die Wahrhaftigkeit des Bildes war schon immer in Frage gestellt. Die Malerei galt als trügerisch, die Farbe als Schminke. Kommt die Skulptur der Wirklichkeit und Wahrheit näher? Wagner „schminkt” manche ihrer Büsten, irritiert gerne mit der Stofflichkeit und den Oberflächen, modelliert aber erkennbar lustvoll und gekonnt. Die Frage nach dem Bildcharakter der Bildhauerei und deren Authentizität reicht sie an uns weiter. Sie umspielt auf der Basis hoher Reflektiertheit in sinnlicher Weise die Verhältnisse von Bild und Abbild. Dabei thematisiert sie die Physis als Portal zur Psyche, die Leiblichkeit der Bildhauerei als Strategie einer symbolischen Verkörperung. Sie übt Kunst als Gestalt gebende Untersuchung aus, in einer Stringenz und Präzision, die Antworten eher nachrangig macht.
Im Zentrum des Porträts steht unter anderem die Frage nach dem Verhältnis von außen und innen. Das Grenzgebiet zwischen den Räumen bildet das Gesicht, das verbirgt und enthüllt. Spiegelt die Oberfläche als Haut und Hülle das Innere wider oder schirmt sie ab? Bietet eine tiefe Oberfläche aus decodierter Physiognomie und Mimik den Zugang zum Sein? Diese Fragen und Aspekte bilden im Werk von Wagner Brücken zwischen Abstraktion und Figuration, zwischen historischen Kunstwerken und zeitgenössischen künstlerischen Strategien. Im großen linken Flügelraum verkörpern Kuben aus leichtem, dünnem Draht Grundaspekte des Verhältnisses von Körper und Raum, Innen und Außen auf hoch ästhetische Weise. In dem von Oberlicht geprägten, luftigen und lang gestreckten Raum erhalten die zwar großen, aber fast immateriell wirkenden abstrakten Körper eine ideale Bühne. Zur Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das Thema der Hülle tragen zwei Mäntel an der Wand bei. Mäntel treten im Werk von Wagner häufiger auf: als Chiffren für Figur und Figuration, Verkörperung und Körperlichkeit.
Die Kuben lassen sich dem Minimalismus zuordnen, auch die Verwendung industriell gefertigten Alltagsmaterials spricht die Sprache der Nachkriegs-Moderne. Wagners Umgang mit der geometrischen Strenge selbstreferentieller Skulptur lässt aber das enge Epochen-Signet und das dogmatische Form-Konzept hinter sich. Das verwendete Material weist ebenso zum Kubus wie zum Käfig. Es bildet eine abstrakte Gestalt aus, trägt aber Bedeutungen weiter, die im Alltag wurzeln und zugleich ästhetische Relevanz besitzen. Das Drahtgeflecht dient für gewöhnlich der Grenzziehung, trennt Inneres und Äußeres, das Eigene und das Andere. Die Grenze ist aber nicht vollständig geschlossen, sie bildet eine Schwelle, eine Membran, an der sich der plastische Körper mit dem Raum austauscht. Dieser offene Übergang verweist einerseits auf das Herausschneiden, aus dem ein Körper im Raum- und Zeitkontinuum seine Identität gewinnt und seine Einheit bildet. Zum anderen reflektiert er das Hineinstellen des Körpers in eine begleitende und umschließende Räumlichkeit. So offenbart dieser transitorische Bezirk die Permanenz und Dynamik der Wechselwirkung von Objekt und Raum. Somit scheint nicht allein Abgrenzung Identität zu stiften, sondern die anhaltende Osmose zwischen Außenraum und Innenraum: „hinten links ist Schimmer”, wie der Ausstellungstitel besagt. Geheimnisvolle Aura eines profanen Käfigs? Visualisierung der Ausstrahlung abstrahierter Körperlichkeit oder Andeutung des Austausches, von dem skulpturale Präsenz im real erfahrbaren Raum lebt? Wagners Kuben geben sich in ihrer leichten eleganten Sachlichkeit frei von semantischem Gewicht. Sie neigen eher der Leere und Auflösung zu als physischer Präsenz. Die verspringenden Linien entreißen sie eindimensionalen Denkarchitekturen. Die differierenden Größen und Brüche in der Reihung verschaffen den Elementen des Ensembles ein Eigenleben. Aber gerade deshalb provoziert die Installation integrierende Reflexion.
Wie in der Klammer von Zeichnung und Malerei fügt sich auch dem Kuben-Raum ein thematisch verwandter Flügel. „Hinten rechts” liegen schwarze Polyeder auf dem Boden verstreut, eine präzise, virtuose Destabilisierung nachvollziehbarer Ordnungsmuster. Flapsig nennt die Künstlerin ihre Objekte „Klunker”. Tatsächlich könnten die unregelmäßigen Vielecke an Edelsteine denken lassen. Doch ihre Größe verstört die Assoziation. Erst recht irritieren Farbigkeit und Material. Zwischen den schwarz bemalten Pappflächen sind die gelb-grauen Kanten sichtbar. Die Machart unterläuft das Edle und das Material die Vorstellung von Stein. Die Objektanmutung schleift sich ab am Stofflichen, die Einheit von Körper, Volumen, Gewicht, Härte, Lage und Bewegungsmodus ist aufgebrochen. Die optische Wahrnehmung gerät in Konflikt mit der haptischen Visualität.
In enger Nachbarschaft der „Klunker” befinden sich weitere Objekte, die den Augenschein und die Lesart skulpturaler Körperlichkeit herausfordern. Vasen verwandte Module türmen sich übereinander, gespiegelt und gereiht. Eine Art Architekturelement wird gleichfalls gestapelt und variiert. Vermeintliche Materialansicht und farbige Fassung mit Patina oder Schliff begegnen sich. Der Tradition verhaftete Begriffe von Sockel und Skulptur sind durch die identische Gestalt der Elemente überwunden. Eine Silhouette trägt auf der Vor- und Rückseite Drucke, die Körperlichkeit suggerieren: Raum-Illusion in Stellung gebracht und als Vorstellung verkörpert. Die Vasen erscheinen als Archetypen funktionaler Gefäße aber auch metaphorischer Behältnisse. So zeigt sich eine Ansammlung von verschiedensten Materialien, von Güssen und Abgüssen, Zwei- und Dreidimensionalität, von Objekten aus dem Baumarkt, die in die ästhetische Liga aufsteigen.
Die Säulen im „Klunker”-Kabinett sind ohne Assoziationen zu Brancusi kaum zu betrachten. Und auch in der schmalen Passage zwischen den Flügelräumen im hintersten Segment des Hauses kommt dieser in den Sinn. Auf lose an der Wand arrangierten Ästen liegt ein Kopf, der „Schlafenden Muse” verwandt, allerdings mit Zügen von Khmer-Figuren: ein archaisch wirkendes Relikt mit historischer Tendenz zur Stilisierung. Einen Impuls zu dem Ast-Arrangement gab der Blick aus dem verglasten Gang auf ein Parkstück mit Teich und Bäumen hinter dem Museum. Zugleich erinnert sich die Künstlerin an eine romanische Bauplastik in der Kathedrale von Autun, welche die biblische Eva gleichsam wie eine lang gestreckte Schlange darstellt. Erzählung und abstrahierte Form, Kultur und Natur treffen im Zusammenklang von Motiv und Material aufeinander. Ein fragiler Zusammenhalt stellt sich ein.
Hier angekommen, nimmt die Verstrickung in die hintergründig geklärte Formensprache und in die anschwellende Komplexität der semantischen Bezüge nochmals kräftig Fahrt auf. Beste Voraussetzung für den Besuch der zentralen Halle. Kreiste das bildhauerische Geschehen schon zuvor um die Pole Wirklichkeiten und Wahrnehmungen, geht es hier nun konzentriert um Sehen und Anschauung, um die Frage, an welchen Punkten das Standbild in ein Sinnbild umschlägt, was eigentlich das Bildliche am Bildhauerischen ist, an welchen Punkten die Gestalt ihren Mehrwert an Gehalt und ihren Überschuss an Ästhetik entwickelt.
Für gewöhnlich wird die Halle des Marcks-Hauses für große Exponate oder raumgreifende Installationen genutzt. Elisabeth Wagner stellt eine auffällig klein geratene männliche Figur auf den Boden, die nur noch weit entfernt an das klassische skulpturale Ideal eines „Faustkämpfers” erinnert. Mit Angst in den weit aufgerissenen Augen hebt der arme Athlet seine Hand aus Wellpappe schützend in die Höhe. Als Abwehr gegen Schläge oder im Blick auf ein erschreckendes Ereignis, auf nahe bedrohliche Realität oder aufgeblitzte erschütternde Vision? Wo sich bei einem Boxer Muskelmassen bilden, zeichnen sich an diesem Körper Schwundspuren ab. Das Pappmaché ist geschrumpft, der Körper wirkt wie in sich verknotet. Wird der Kampf hier konterkariert oder das Erschrecken und potentielle Scheitern nobilitiert? Die Figur eröffnet einen Dialog mit klassischer Bildhauerei.
In dieser Halle des Blicktausches und der Augentäuschung schauen überdimensionale Augen auf Exponate und Publikum. In ihrem Riesenformat, ihrem blassen Schwarz und durch den Reliefcharakter der formgebenden Schichten wirken die an der Wand lehnenden Scheiben wie abgründige, soghafte Krater, in denen sich die Blicke verlieren können. Auf schmalen Podesten hocken zwei Affen, die aus der Höhe mit größter Neugier ihre mutmaßlich nachäffenden Posen exerzieren und an der rechten Wand fordern große Fotografien das Auge heraus. In den abstrakten Formsegmenten, die mit einem unentschiedenen Oszillieren zwischen Figur und Grund spielen, klingen Details aus dem Raum an. In meisterhafter fotografischer und fototechnischer Realisierung stellt sich in den großen Abzügen der Eindruck von Plastizität ein. Das Auge irrlichtert zwischen Motiv, fotografischem Trägermaterial und Ausstellungswand. Wie zuvor schon lässt uns die Künstlerin auch hier in vermeintlich eindeutigen Kategorien von Wirklichkeit und Schein, Wahr-Nehmung und Illusion innehalten. Die Wahrnehmung stellt sich als Wirklichkeit dar, die schöpferische Imagination offenbart sich als der eigentliche Nährstoff für die Annäherung an eine authentische Realität.
Am Ende des Ausstellungsgangs weisen die Stationen in viele Richtungen weiter, dennoch stellt sich der Eindruck eines Gefüges ein. Hinter dem sinnlichen Erlebnis von Wagners klarer und vitaler Bildhauerei, die in der Lust der Künstlerin an einem klassisch modellierenden und gestaltenden Zugriff auf unkonventionelles Material gründet, öffnen sich anspielungsreiche Erfahrungen: hintergründige Ortsbezüge, eine subtile Vermessung des Museums in Form einer Hindeutung auf seine Charakteristika und Potentiale, die pointierte Platzierung der Exponate ohne Harmonisierung, variantenreiche Zusammenspiele von skulpturaler Situation und Ort. Tatsächliche und gedankliche, aktuelle und historische Räume verschränken und überlagern sich. Abstraktion und Figuration treffen abseits klassischer Ordnungen aufeinander. Die Ausstrahlung geformter Körperlichkeit und ein konzeptueller Zugang wirken produktiv zusammen. Wagner integriert historische Informiertheit, aktuelles Bewusstsein ästhetischer Herausforderungen und Reflexion formaler Strategien. Sie greift die Wege ikonischer Darstellungen auf und folgt ihren Wanderungen durch entgrenzte Medien mit überraschenden und formal souveränen Bildlösungen.
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